Während der SOL-Stunde bekam die 6b die Aufgabe, eine Gruselgeschichte fortzusetzen.
Das neue Haus
Meine Mutter war schwanger. Sie freute sich riesig, aber ich nicht, denn wir mussten wegen des Babys in ein größeres Haus umziehen. Ich musste also mein Zimmer aufgeben, alle Sachen einpacken und mein geliebtes Geheimversteck entleeren. Unser neues Haus war mir von Anfang an nicht geheuer. Es lag abseits der Straße in einem kleinen, alten Wäldchen. Es war ein Fachwerkhaus mit dunklen Balken und einem vermoosten Reetdach. Egal wohin man trat, knarrte es: die Dielen des Bodens knarrten, die Balken im Dach knarrten und sogar die Türen knarrten, obwohl sie geschlossen waren. „Das ist unsere natürliche Alarmanlage“, sagte meine Mutter. Und wirklich: unbemerkt kam niemand durch unser Haus.
Ich hatte gerade mein neues Zimmer bezogen, als es klingelte. Neugierig ging ich zur Haustür, doch meine Mutter hatte schon geöffnet. Vor der Tür stand ein alter Mann. Er hatte einen langen, abgewetzten Ledermantel an, der im Wind flatterte. „Guten Tag junge Frau“, sagte er zu meiner Mutter. „Ist Hugo da?“ „Nein, tut mir leid. Der ist doch gestorben. Wir sind Familie Meise. Wir wohnen jetzt hier“, antwortete meine Mutter. „Und Hugo?“, fragte der alte Mann erneut. „Der ist vor einer Woche begraben worden. Auf dem Westfriedhof, glaube ich“, sagte Mutter nun sichtlich genervt. „Und wo ist Hugo?“, fragte der Alte. „Nicht hier! Gehen Sie nun bitte. Ich habe zu tun!“ Meine Mutter wollte gerade die Tür zudrücken, doch plötzlich fiel der Blick des alten Mannes auf mich. Seine Augen waren grau und starrten mich an. Ich kniff erschrocken die Augen zusammen, doch als ich wieder hinsah, hatte sich der alte Mann abgewandt und verschwand im Wald. Wir gingen wieder ins Haus und meine Mutter sagte zu mir: „Sei so lieb und erzähl deinem Vater nichts davon. Er ist gerade so im Stress und diese Sache ist wirklich nicht von Belang.“ Ich nickte, fragte mich aber, was Belang bedeuten sollte, und so vergaß ich es einfach.
Als es Zeit zum Schlafengehen war, war ich noch gar nicht müde und als ich nach einer halben Stunde immer noch nicht eingeschlafen war, schnappte ich mir mein Buch und begann zu lesen. Ich bemerkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als die Turmuhr im Dorf Mitternacht schlug, schreckte ich hoch und legte das Buch zur Seite. Dann fiel mir auf, dass das Wetter sich verändert hatte: Nebelschwaden zogen durch das offene Fenster ins Zimmer. Ich wollte aufstehen und es schließen, doch ich konnte vor lauter Nebel nichts sehen. Auf einmal knarzte die Treppe und ich kauerte mich auf dem Boden zusammen. Die Tür öffnete sich quietschend und eine dunkle Gestalt schlurfte ins Zimmer. „Wo ist Hugo?“, stöhnte sie. „Wo ist er?“ Ich wagte kein Wort zu sagen. Der Wind pfiff durch das Zimmer und vom Fenster her ertönte eine Stimme. „Bist du gekommen, um mich vom Fluch zu befreien, Sirius? Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann! Nimm mich mit!“ Die dunkle Gestalt lief zum Fenster und packte die alte Vase, die wahrscheinlich schon immer dort auf dem Fensterbrett gestanden hatte. Sie verließ das Zimmer und die Nebelschwaden lösten sich auf. Ich sprang auf, rannte zu meinem Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Ich würde nie erfahren, was wirklich geschehen war, und schlief dann tief und fest und hielt am nächsten Morgen alles für einen Traum.
Johanna Eisenhardt