Eine Oper während der eigenen Schulzeit zu erleben, ist eine großartige Erfahrung und eben jene durften wir, eine Gruppe aus Schülern der beiden Jahrgangstufen sowie Klasse 10, gemeinsam mit Herr Schelb am 14.November in der Staatsoper Stuttgart genießen. Der Stoff, den Guiseppe Verdi und sein kongenialer Partner Arrigo Boito Ende des 19.Jahrhunderts in Form einer Oper interpretierten, ist keinesfalls neu gewesen, doch nicht ohne Grund setzt Silvia Costa in ihrer Inszenierung des Meilensteins “Otello” neue Akzente, um die Narrative samt ihrer zeitlosen Inhalte in einen modernen Zusammenhang zu weben. Die Geschichte des Feldherrn, der sich in einem Netz aus Intrigen, Macht, Eifersucht, schwindender Liebe und ausufernder toxischer Männlichkeit der unausweichlichen Katastrophe entgegenbewegt, präsentiert eine außergewöhnliche Synthese aus massentauglichen Motiven und einem Subtext, der erschreckende Parallelen zum 21. Jahrhundert bereithält. Shakespeare hat zweifelsohne die literarische Grundlage aus einem völligen konträren Weltbild geliefert, doch durch den dominanten zeitgenössischen Bezug liefert Costa Diskussionsstoff über Plot und Figuren hinaus. Die Entscheidung mit dem Dokumentarfilmer Sir John Akomfrah zu kooperieren, führte nämlich zur innovativen Idee dem Publikum durch Videosequenzen und Begriffsmontagen zwischen den Akten eine Art “Echoraum der Reflexion” zu gewähren. Auf diese Weise nimmt die Regisseurin eine post-koloniale und in allen Belangen gesellschaftskritische Position ein, die über die Identität der afrikanischen Bevölkerung, fragile Geschlechterrollen und die Frage nach Integration diskutiert. Die wiederholte Bezeichnung Otellos als “Mohr” durch Jago und das Setting eines westlich geprägten Zyperns, unterstreicht die Ansicht, dass wir es hier mit einer rassistischen und geradezu sozial-darwinistischen Ideologie zu tun haben. Das militärische Milieu ist bekanntermaßen hierarchisch geprägt, weshalb Otellos Überlegenheit und Machtposition für Jagos Menschenbild ein Dorn im Auge ist. Die Liebe zwischen dem Protagonisten und seiner Geliebten Desdemona scheint in ihrem Feuer erst unerlischbar, doch Schritt für Schritt treibt der eifersüchtige Jago, welcher teuflische Charakteristika übernimmt, Otello in denselben Abgrund. Die Oper endet typisch für die Romantik mit einem Finale, das einer Tragödie gleicht und trotz alldem mehr pointiert als extravagant wirkt. Der Mord an seiner Herzdame ist wie so oft von blanker Eifersucht getrieben und schlussendlich wählt selbst der Geliebte den Suizid, um im Tode mit Desdemona vereint zu sein. Costa schreibt diesem Mord vor allem deshalb auch eine inszenatorische Prägnanz zu, da er einem Femizid gleicht und überaus patriarchale Strukturen entlarvt, die eine Kommunikationsform, in der beide Geschlechter eine faire Position einnehmen, gar nicht zur Rede stellt. Statt auf opulente Weise das Ersticken zu inszenieren oder das Kissen als Mordwerkzeug zu verwenden, reduziert sie Femizid sowie Suizid auf ein simples Motiv: das Taschentuch, welches repräsentativ für die Liebe der beiden und die Fragilität der Beziehung steht. Weil der Missbrauch dieses Gegenstands erneut betont wird und sich dadurch auch Otellos moralischen Verfall stärker herauskristallisiert, nimmt sie als Frau auch eine wertvolle Distanz zu dieser Straftat ein. Dem gegenüberzustellen ist, dass nicht nur eine klar feministische Lesart erkennbar ist, sondern auch, dass Costa und ihr Team darüber hinausgehen, eine klare Dichotomie von Opfer und Täter herzustellen. Sie gesteht dem Publikum auf mutige Weise moralische Ambivalenz zu und offenbart, dass selbst Otello mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hat und auch er als afrikanischer bzw. muslimischer Einwanderer diskriminierenden Spannungen in der Gesellschaft ausgesetzt ist. Sein leidenschaftlicher Kampf für Anerkennung erfährt in dem Moment, als Desdemonas Blick auch dem ausgestoßenen Cassio gilt, ein jähes Ende. Schuldgefühle und eine überwältigende Ungerechtigkeit können aus seinem Blickwinkel durchaus ein Grund sein, warum er plötzlich alle Probleme, auf die in dieser Gesellschaft weitestgehend irrelevante Frau projiziert. Deshalb ist auch der Bezug zu George Floyd und der “BlackLives-Matter"- Bewegung von Relevanz, da Costa ihren Blick auf die Ausgestoßenen, anscheinend Minderwertigen und strukturell Benachteiligten legt. Die Inszenierung und musikalische Darbietung wirkt dagegen geradezu banal, doch esi st genau dieses sterile und von Simplizität geprägte Bühnenbild, welches die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Figurenpsychologie und die Ambiguität des Dargestellten lenkt. Verdi verzichtet weitestgehend auf opulente Massenszenen, imposante auditive Spielereien oder wiederkehrende Leitmotive à la Wagner oder Puccini und entfernt sich dadurch spürbar auch vom Etikett “Unterhaltung” hin zu “Kunst, die Diskurs prägen darf”. Insbesondere die zu “bestaunenden” Kostüme sind so ungewöhnlich zurückgenommen und fungieren in ihrer meist konträren Schwarz-Weiß-Metaphorik als Reflexionsebene des Dialogs. Der rote Faden in Costas Interpretation des legendären Stoffes ist die Kompromittierung, Simplizität und der gleichzeitige Mut zum zeitgenössischen Bezug. Verdi selbst hatte schon das Ziel, Shakespeares Werk auf die elementaren Themen zu begrenzen und dabei dem Kern gerecht zu werden, doch Costa setzt diesen Pfad konsequent fort. Die Regisseurin reduziert nicht nur Narrative, sondern auch das Bühnenbild und lenkt dadurch den Fokus auf das non-verbale und wirklich substanzielle. Sie brennt für die Figuren, ihr Leiden und warum wir heute noch Geschichten wie “Otello” faszinierend oder eher nicht finden sollten. Auf radikalste Weise tritt sie in die Fußstapfen von Größen des Musiktheaters und gleichermaßen wirft sie vielerlei Konventionen um. Egal ob man am Ende, wenn der Vorhang fällt, aus dem Schlaf erwacht oder vor dem Ausgang der Diskurs so richtig beginnt, eins ist klar: Otello lässt dich in dieser Interpretation nicht kalt und vielleicht ist dies an Kunst das größte Kompliment.

Johannes-Martin Haischt (J2)

 

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