Was ist die Stolpersteininitiative?

Die Stolpersteininitiative hat es sich zur Aufgabe gemacht die Bürger und Bürgerinnen auf die Opfer des Nationalsozialismus aufmerksam zu machen. Zu den Opfern gehören die Juden, Sinti und Roma, Behinderte und Homosexuelle. Dabei wird eine kleine Zeremonie für die Opfer organisiert und ein Stolperstein an deren letzten freiwillig gewählten Wohnort verlegt. Die Stolpersteine werden von dem Künstler Gunter Demnig geschaffen. in Deutschland sind mehr als 25.000 Steine an 500 Orten verlegt worden. in Europa wurden bereits mehr als 45.000 verlegt. Somit ist er der Gründer des weltweit größten dezentralen Mahnmals.

"Wer den Namen des Opfers lesen will, muss sich herunterbeugen. in diesem Moment verbeugt er sich vor ihm." - Gunter Demnig

In Böblingen hat sich zum zweiten Mal eine Stolpersteininitiative mit Beteiligung von Schülern der Böblinger Gymnasien gebildet. Beide Male wurde Euthanasieopfern ein Gedenken bereitet.

 

Berta Kettenmann das "Puppenmütterchen"

Berta Kettenmann, das Jüngste von insgesamt fünf Kindern, wird am 29. Januar 1908 geboren. Die Mutter Johanna Kettenmann bringt zwei Söhne, Hermann und Johann, zur Weit, die bereits im frühen Säuglingsalter versterben. Im Jahr 1892 heiratet sie Johann Jakob Braun, mit dem sie weitere zwei Kinder hat. Eine Tochter Emma Maria und einen Sohn Wilhelm, der jedoch auch früh verstirbt. Ihr Ehemann Johann Jakob Braun stirbt am 18. Januar 1907. Ein Jahr darauf am 29. Januar 1908 kommt Berta zur Weit, deren Vater unbekannt ist. 

Die kleinwüchsige Berta, mit sieben Jahren erst 95 cm groß, kann eigensinnig und zornig sein. Dennoch besucht sie für drei Monate die Volksschule, wird aber im selben Jahr 1915 in die Heilanstalt Stetten eingewiesen, da die Mutter nicht mehr für das Kind sorgen kann. Der Aufenthalt in der Heilanstalt wird von der Armenpflege Böblingen unterstützt. 

In einem Bericht der Heilanstalt Stetten wird festgehalten, dass Berta gerne mit Puppen spielt und sie oft von ihrer Mutter besucht wird. Auch dort wird sie unterrichtet. Mit zehn Jahren kann sie im Zahlenbereich bis fünf zählen. Im Alter von zwölf Jahren ist Berta 120 cm groß. 1924 wird Berta als arbeitsunfähig bezeichnet und ihre geistigen Fähigkeiten werden auf die eines 5-jährigen Kindes eingeschätzt, zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits 16 Jahre alt.


Im November 1930 wird Berta aufgrund von Platznot in eine Diakonie nach Rammelshausen gebracht. Drei Jahre darauf übernimmt eine Frau Berta zur Pflege. Diese betont in einem Bericht Bertas liebevolle, kindliche Art, aber auch ihre Stimmungswechsel, ihren Eigensinn und ihre Neigung Müll unter dem Bett zu verstecken. 1934 verpflichtet sich Johanna Braun eine Schwangerschaft Bertas zu verhindern.
Im Juli 1939 schenken Frauen aus Hochdorf Berta eine neue Puppe, da sie sehr gerührt waren von Bertas Anblick. Am 18. September 1940 wird Berta mit dem zweiten Transport von Stetten nach Grafeneck .verlegt•, wo sie noch am selben Tag ermordet wird.
Bertas Mutter wird von Grafeneck über den Tod ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt. Daraufhin schreibt sie einen Brief an die Heilanstalt Stetten, in dem sie den Tod ihrer Tochter hinterfragt, da diese im August noch völlig gesund gewesen sei. in der Antwort bedauert Stetten den Tod Bertas sehr . [...], denn das Bertale war uns allen lieb. Man sah sie immer mit ihren Puppen spazieren gehen und auch fremde Besuche, die in die Anstalt kamen, freuten sich an diesem Puppenmütterchen." 

Was war die Euthanasie?

StolpersteinDas Wort Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Sterbehilfe oder "guter Tod".
 Zur Jahrhundertwende, also Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde der Begriff im Zusammenhang mit der Erb- / Gesundheitslehre (Eugenik) im eigentlichen Sinne verfälscht. Bereits in der Weimarer Republik gab es Befürworter der "Rassenhygiene", die die Idee, minderwertiges Leben auszumerzen, unterstützten.
Diesen Gedanken griff Adolf Hitler in seinem Werk "Mein Kampf" auf und dies führte während seiner Herrschaft zu dem tausendfachen Mord an Menschen mit unheilbaren Krankheiten und Behinderungen. Nach seiner Machtergreifung verbreiteten die Nationalsozialisten "Kosten - Nutzen - Rechnungen" unter dem deutschen Volk, um den durch behinderte Menschen verursachten wirtschaftlichen Ballast aufzuzeigen. Am 18. August 1939 wurden Hebammen und Ärzte verpflichtet, missgebildete Kinder zu melden. Meist wurden diese Kinder dann durch Medikamente oder Verhungernlassen getötet. Bald darauf begann man mit der Planung der systematischen Ermordung von Menschen. Adolf Hitler erließ ein Schreiben in dem "[...] unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.", aber ein Gesetz zur Euthanasie gab es nie.

Dazu wurden spezielle Tötungsanstalten errichtet, zu denen dann die Patienten der umliegenden Heil - und Pflegeeinrichtungen, z.B. Stetten im Remstal, transportiert werden sollten.
 Grafeneck ist der erste Ort systematisch-industrieller Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt. Die Opfer, Männer, Frauen und Kinder, wurden in einer Gaskammer, die als Duschraum getarnt war, durch Kohlenmonoxid vergast. 1940 wurden in Grafeneck über 10600 Menschen ermordet.

Die Spuren der Täter und der von ihnen entwickelten Tötungsverfahren führen von Grafeneck in die Vernichtungslager im Osten: Belzec, Treblinka, Sobibor und Auschwitz-Birkenau.

Die Morde wurden von den Tätern- nach dem Sitz der zentralen Planungsbehörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin - als "Aktion T4" getarnt. 
Bei dieser Aktion wurden von 1940 bis 1941 auf systematische Weise mehr als 70000 Menschen, mit geistiger oder körperlicher Behinderung, ermordet.

Nicole Prokoph und Saskia Scherer für die Stolpersteininitiative
(Judith Grund, Felix Swoboda, Sebastian Manstetten. Elisabeth Hülsmann, Wolfgang Hülsmann und Susanne Söhn-Rudolph)

 

 

Stolperstein Verlegung für Rudolph Oehler in Böblingen

Die "AG Stolperstein" des Böblinger Otto-Hahn-Gymnasiums, bestehend aus 7 Schülern der Jahrgangsstufe 2 (Tobias Braatz, Falco Dietz, Joachim Groß, Jakob Hendess, Angelika König, Fabian Schmidt; Matthias Peukert, LMG) und deren Geschichtslehrerin, Doris Stegmaier-Theilen, hat zusammen mit dem Leiter des Stadtarchivs Böblingen, Dr. Christoph Florian, nach Opfern des Nationalsozialismus in Böblingen recherchiert, um für eines dieser Opfer, zur mahnenden Erinnerung, einen Stolperstein zu verlegen.
Dieses Unterfangen stellte sich insofern als schwierig heraus, als im Jahr 1943 das Stadtarchiv Böblingen nach einem Bombenangriff abgebrannt ist und sehr viel Quellenmaterial dabei zerstört wurde.
Trotz dieser schwierigen Ausgangslage waren die Recherchen erfolgreich und es konnte ein Einzelschicksal aufgearbeitet werden.
Rudolf Heinrich Oehler, geboren am 2.10. 1910 in Böblingen, der bis zum Jahr 1936 bei seiner Familie in Böblingen lebte, wurde im Jahr 1936 in die Behindertenanstalt Stetten im Remstal gebracht und von dort am 5.11.1940 im Rahmen der Euthanasie in die "Landespflegeanstalt" Grafeneck "verlegt". Der Ausdruck "verlegt" ist eine Verschleierung des wahren Sachverhalts und bedeutet in Wirklichkeit, dass Rudolph Oehler im Alter von 30 Jahren in der Anstalt Grafeneck, noch am selben Tag, zusammen mit vielen anderen Behinderten aus anderen Anstalten, vergast wurde. Den Angehörigen gegenüber wurde natürlich dieser Sachverhalt verschwiegen. Sie bekamen in der Regel "Trostbriefe", in denen ihnen eine falsche Todesursache und die sofortige Einäscherung des Verstorbenen mitgeteilt wurde.
Das Wort "Euthanasie" bezeichnet eigentlich Sterbehilfe für todkranke Menschen, die nicht länger leben wollen. Wörtlich übersetzt heißt es "schöner Tod". Die Nationalsozialisten missbrauchten diesen Begriff, um ihre tausendfachen Morde an Menschen mit Behinderung als notwendigen, gnadevollen Akt zu tarnen. Schon seit der Machtübertragung an Hitler 1933 arbeiteten sie an der "Rassenhygiene", der Reinhaltung der deutschen Rasse durch Zwangssterilisationen und Heiratsverbote.
Im Jahr 1939 ließ Hitler die Befugnisse der Ärzte so erweitern, dass sie im Zuge des "Kriegs nach innen" auch aus wirtschaftlichen Erwägungen "unheilbar Kranke" töten durften. Schon Kindern wurde in der Schule vorgerechnet, wie viel Essen ein "nutzloser Schwachsinniger" verbraucht, mit dem man gesunde Menschen hätte ernähren können. Kurz darauf begann man mit der Planung für eine systematische Ermordung von "unwerten" Menschen. In Süddeutschland war das Schloss Grafeneck bei Münsingen auf der schwäbischen Alb ausgewählt worden, da es abgeschieden lag und über genügend Kapazitäten verfügte, um auch das Personal, das für die Taten nötig war, unterzubringen. Man leitete dort Kohlenmonoxyd in die als Duschraum getarnte Kammer, um so die eingelieferten Patienten zu vergasen. Vermutlich auch aus Testzwecken für später entstehende Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka.
Bis ins Jahr 1940 wurden auf Schloss Grafeneck 10654 Menschen ermordet.
Für die Recherchen waren die Schüler zunächst zusammen mit ihrer Lehrerin im Stadtarchiv Böblingen und danach gemeinsam mit Herrn Dr. Florian in der Diakonie Stetten, wo sie Einsicht in die Akten erhielten. Die Schülergruppe war zutiefst betroffen von der Akribie, mit der die Persönlichkeit und der Aufenthalt Rudolph Oehlers dokumentiert worden war. So wird er als ruhig, gutmütig und friedliebend beschrieben, er ging gerne in die Kirche. Aufgrund seiner geistigen Behinderung und seiner Sehschwäche wurde er 1938 laut ärztlichem Zeugnis als wehruntauglich eingestuft, und dies bedeutete sozusagen schon sein Todesurteil. Menschen wie Rudolph Oehler waren für die Nationalsozialisten "lebensunwertes Leben" und wurden ab 1940 umgebracht.
Die Morde an diesen Menschen sind ein Beispiel für die Gräueltaten des Naziregimes, sie markieren den Beginn eines beispiellosen Zivilisationsbruchs. Die Schüler möchten mit diesem Stolperstein für Rudolph Oehler- dem Ersten in Böblingen - Zeugnis über diese Verbrechen ablegen und ihm eine späte Ehrung, über 70 Jahre nach seinem Tod, zukommen lassen. Und natürlich auch einen Beitrag zur Aufarbeitung der Stadtgeschichte leisten. Der Neigungskurs Geschichte hat somit Pionierarbeit geleistet und sichtbare Spuren in der Stadt Böblingen hinterlassen.
Für die freundliche Unterstützung der Stadt Böblingen , die hervorragende Zusammenarbeit mit Dr. Florian vom Stadtarchiv und Pfarrer Binder von der Diakonie Stetten herzlichen Dank!
Ohne die konstruktive Begleitung der Initiative Stolperstein Stuttgart wäre das Projekt nicht zu realisieren gewesen. Hierfür bedanke ich mich auch im Namen der Schüler.
Ein ganz besonderer Dank gilt dem Förderverein des OHG, der die Arbeit der Schüler finanziell unterstützt hat.
Doris Stegmaier-Theilen, Fabian Schmidt J2
Das erste Bild zeigt von links nach rechts, bei der Verlegung des Stolpersteins am 16. April vor der Brühlstraße 20: Günther Haussmann, Fabian Schmidt, Angelika König, Oberbürgermeister Lützner, Matthias Peukert, Joachim Groß, Doris Stegmaier-Theilen, Tobias Braatz, Dr. Christoph Florian, Jakob Hendess.

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Auf dem zweiten Bild ist der Kölner Künstler Gunter Demnig bei der Verlegung des Steins zu sehen.

Nach der Verlegung des Stolpersteins unternahmen die Schüler noch eine Exkursion nach Grafeneck und besichtigten den Ort, an dem Rudolf Oehler noch am Tag der Einlieferung, am 5. 11. 1940, ermordet wurde. Eine Gedenkstätte erinnert heute an diese Verbrechen.

Opferbuch Gedenkstätte Grafeneck
Der aktuelle Neigungskurs J 1 Geschichte wird nächsten Februar einen weiteren Stolperstein in Böblingen verlegen, ebenfalls für ein Opfer der Euthanasie.